© Oana Popa

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Geschichte

Was bedeutet „Vaganten“?

Vaganten: so bezeichnete man im 12. und 13. Jahrhundert die umherstreifende Bohème. Ob arbeitssuchende Kleriker, freigeistige Studenten oder verarmte Gelehrte, sie alle waren auf Durchreise, angewiesen auf temporäre Gastfreundschaft, stets nach vorne blickend, ohne festes Ziel und immer auf der Suche. Eine Einstellung, die in vielerlei Hinsicht auch heutzutage die der freischaffenden Künstler*innen widerspiegelt – und die der Vagantenbühne.

Die Anfänge

Im zerstörten Nachkriegsberlin fand sich um Horst Behrend und Günter Rutenborn 1949 eine Gruppe von Schauspieler*innen ohne eigene Spielstätte zusammen. Das freie Ensemble gab sich den Namen „Vaganten“. Gemäß ihrem Namen zogen sie durch die Stadt und traten in Vereinshäusern, Festsälen und auf Freilichtbühnen auf, sowohl im Osten als auch im Westen; die Eröffnungspremiere von Rutenborns „Auferstehung“ fand in einem Gemeindesaal der evangelischen Kirche statt. Schon bald verlangte allerdings die kontinuierliche, professionelle Arbeit nach einer festen Spielstätte. Diese fanden die Vaganten schließlich 1956 im Souterrain des Delphi-Hauses an der Kantstraße.

Die Avant-Garde

Die feste Spielstätte ermöglichte dem Ensemble eine neue künstlerische und thematische Tiefe. Mit zeitgenössischen, vielfältigen Stoffen wie Wolfgang Borcherts Heimkehrerdrama „Draußen vor der Tür“, Jean-Paul Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ und Eugène Ionescos „Die kahle Sängerin“, der mit Horst Behrend engen Briefkontakt pflegte und das Theater später auch besuchte, etablierte sich die Vagantenbühne als das Avantgarde-Theater schlechthin in Berlin. Für diese neu gefundene Identität war der Mauerbau 1961 ein harter Einschnitt: Gastauftritte in der DDR konnten nicht mehr stattfinden, Mitarbeiter*innen aus dem Ostteil Berlins mussten das Ensemble verlassen.

Die Neueröffnung

1979 starb der Gründer der Vagantenbühne, Horst Behrend, und seine Söhne Rainer und Jens-Peter Behrend übernahmen die Leitung. Mit einem engagierten Team wurde ein neues Profil entwickelt, das auf drei Grundzügen basierte: zeitgenössische Dramatik, Werke der klassischen Moderne und parodistisches Schauspiel. 1985 wurde das Theater für einen längst fälligen Umbau sieben Monate geschlossen und die Räumlichkeiten grundlegend saniert und modernisiert.

Zunehmend öffnete sich die Vagantenbühne politischen Themen, widmete sich verstärkt der Theaterpädagogik und suchte den Kontakt zu Schulen, Universitäten und anderen Ausbildungsstätten, um möglichst vielen verschiedenen jungen Menschen (erste) Begegnungen mit dem Theater zu ermöglichen. Aber auch ein Komödienklassiker schrieb in diesem Zeitraum Vagantengeschichte: 1997 inszenierte Andreas Schmidt die Farce „Shakespeares sämtliche Werke – leicht gekürzt“, die mit mehr als 1.500 meist ausverkauften Aufführungen und zahlreichen Gastspielen die wohl am häufigsten gespielte Produktion der Vaganten war.

Mit dem Tod Rainer Behrends 2009 übernahm Jens-Peter Behrend die alleinige Leitung. Nach mehrmonatiger Umbaupause wurde das Theater im September 2012 wiedereröffnet. Eine Vielzahl spannender Gegenwartsdramatiker*innen wie Löhle, Naber, Hübner, Weßling, Carnevali, Lausund, Hader u.v.m. wurden für die – und von den! – Vaganten entdeckt und schärften das Profil eines zeitgenössischen Theaters mit gesellschaftlich relevanten Themen. Bald stieß Regisseurin Bettina Rehm zu den Vaganten, die mit Stoffen von Yasmina Reza, Ayad Akhtar, Dennis Kelly u. a. den Spielplan erweiterte. 2014 inszenierte erstmals Lars Georg Vogel bei den Vaganten und sollte in den Folgejahren das Programm durch seine Inszenierungen, u. a. „Der Untertan”, „Moby Dick” und „Michael Kohlhaas“, wesentlich mitgestalten.

2015 wagten sich die Vaganten im Zeichen ihrer namensgebenden Wanderspieler*innen seit Langem wieder aus ihren Räumlichkeiten hinaus und schufen mit einer Adaption von Vicki Baums „Menschen im Hotel” die Form des „Theaterparcours”: Die Vorstellung begann bei den Vaganten, bevor die Zuschauer*innen, in Gruppen eingeteilt, gegenüber in das an der Fasanenstraße gelegene Hotel Savoy und dessen Zimmer geführt wurden, wo sich die weitere Handlung abspielt.

Die Gegenwart

2019 feierte die Vagantenbühne ihr siebzigjähriges Bestehen. Es war zugleich das letzte Jahr unter der Intendanz von Jens-Peter Behrend, der sich in den Ruhestand verabschiedete. Anfang 2020 übernahm Lars Georg Vogel die Geschäftsführung und künstlerische Leitung der Vagantenbühne mit seiner Inszenierung von Stefano Massinis „Lehman Brothers“. Während der Corona-Lockdowns musste das Haus wiederholt seine Türen schließen; dennoch entstanden zahlreiche Projekte wie Stückentwicklungen und Freiluft-Inszenierungen, die im kleinen Hof des Gebäudes stattfanden. Heute etabliert sich die Vagantenbühne weiterhin als Theater für zeitgenössische Stoffe und Perspektiven, insbesondere durch Gastspiele und Lesungen, regelmäßige Kooperationen mit der Universität der Künste Berlin, Werkstatt-, Erst- und Zweit-Inszenierungen neuer Stücke und kreativer Überschreibung von klassischen Texten.

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Die über siebzigjährige Geschichte unseres Hauses nahmen wir zum Anlass, eine Jubiläumspublikation herauszugeben.
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